"der Spanier"..... die etwas andere Kolumne!
Ich finde, das ist eine ganz realistische Beschreibung.
Quelle: SpiegelOnline
www.spiegel.de vom 02.05.2005
http://www.spiegel.de/reise/kurztrip/0,1518,350792,00.html
"
Das Geheimnis
von Barcelona
Von Barbara Baumgartner
Vielleicht liegt es daran,
dass sich die Stadt begeistert in Neues stürzt und dabei doch ihr Herz
bewahrt. Oder an der Toleranz der Einwohner.
Oder an der Sonne. Vielleicht liegt es aber auch an einer Mischung aus allem,
dass die Barceloner und mehr und mehr Ausländer so glücklich
sind mit der katalanischen Metropole.
Michael Lange
Plaça Reial: Bei Tag ebenso beliebt wie im Licht der Gaudí-Laternen
Die Nacht beginnt. Alle haben viel vor, dennoch nehmen sich alle viel Zeit.
Der Morgen ist weit, und bis dahin begeht man in Barcelona die Nächte.
Grüppchen schlendern dicht an dicht durch die Gassen rund um Santa Maria
del Mar wie ein heiter dahinplätschernder Fluss, der die Kirche umspült
wie einen mächtigen Felsen, sich verzweigt in den engen Gassen, zwischendurch
zur Ruhe kommt auf Caféhausterrassen oder an Tresen voller Tapas.
In der Bar "El Xampanyet",
in der hauptsächlich Cava, der katalanische Sekt, serviert wird, stärkt
sich ein flüsterndes junges Paar für die Disko,
er füttert sie mit Schinken und Sardellen. Ringsum braust spanisch-katalanisches
Stimmengewirr. Vor den Restaurants der Plaça Reial bilden
sich lange Schlangen - auch zum Warten ist Zeit. Wer um Mitternacht noch keinen
Tisch zum Abendessen hat, den fragt der Kellner ohne
Wimpernzucken: "Wollt ihr in einer Stunde wiederkommen?" Wer mittags
ruht, hat abends Kraft. Und wenn einen trotz Siesta die Müdigkeit überfällt,
geht man im Wissen nach Hause, dass andere es übernehmen, die Nacht ganz
auszuschöpfen. In der neuen In-Adresse "Club 13" zum Beispiel,
den weißen Fluchten des "Salsitas" oder der "Kentucky Bar",
in der zur Sperrstunde um drei Uhr die Rollläden heruntergelassen werden,
ohne
dass sich etwas an der Stimmung dahinter ändert.
In stillen Momenten, tagsüber,
birgt die Altstadt dagegen ein anderes Geheimnis. Dann bewegt man sich zwischen
den fünfstöckigen mittelalterlichen
Gebäuden wie durch die Eingeweide eines mächtigen Körpers, in
dem tief drinnen hinter dicken Mauern Leben pocht. So schmal sind manche Gassen
der Viertel Barri Gòtic, des Born, der Ribera, dass nur beim höchsten
Sonnenstand Licht auf den Boden fällt, ein Streifen, nicht breiter als
ein Handtuch.
Im Born sitzt Eleonor hinter einer hohen Glasflügeltür im Halbdunkel
und sagt: "Manchmal erkenne ich mein Viertel nicht mehr." Sie sagt
es staunend,
nicht bitter, mit einem leichten Kopfschütteln, bei dem ihre weichen, weißen
Locken wippen. "Aber ich bin froh, dass hier wieder Leben ist."
"Hier ist das wahre, das authentische Barcelona"
Nachdem die Markthalle,
eine großartige Eisenkonstruktion, in den siebziger Jahren ihre Tore schloss,
wurde es ruhig im Viertel. Es verkam und wurde
vergessen. Die dunklen Gassen waren nun unheimliche Orte. Doch dann zogen nach
und nach neue Bewohner her. Die meisten jung, es machte ihnen
nichts aus, dass die Häuser keinen Aufzug haben, nur enge, steile Treppen.
Einige haben Cafés eröffnet oder Läden, in denen sie von mutigen
Designern
entworfene Mode verkaufen, Schmuck oder Schuhe. "Seltsam", sagt Eleonor
amüsiert, "nie sehe ich auf der Straße jemanden in diesen Sachen."
Der Tag ist heiß,
aber es geht jener angenehme Wind, bei dem man überall in der Stadt, selbst
an tief im Häusermeer versunkenen Orten, versucht ist,
die Augen zu schließen und sich einzubilden, man spüre die Frische
der See. Hier im Born ist das Meer tatsächlich nicht weit. Vom Ende einer
der
Gassen dort vorn sind schon die Masten der Segelboote zu sehen. Eleonor liebt
dieses Viertel, und seine neue Anziehungskraft erstaunt sie nicht.
"Die Menschen spüren, dass das hier das wahre, das authentische Barcelona
ist", sagt sie, und Stolz wärmt ihre Stimme.
Die Statistik behauptet: Acht von zehn Barcelonern sind glücklich in ihrer
Stadt. Mehr und mehr Ausländer ziehen her.
Engländer, Deutsche, Italiener, Holländer oder Amerikaner, die eigentlich
nur für ein paar Monate kommen wollten - vor Jahren.
Vielleicht hat Juan Marsé
Recht. Das Beste an seiner Stadt sei, sagte der Schriftsteller einmal, dass
sie sich stets zu vergnügen verstand.
Auch in widrigen Zeiten: "Barcelona war immer ein angenehmer Ort, selbst
unter Franco." Andere behaupten, das Geheimnis liege darin,
dass die Stadt sich mit Begeisterung in Neues stürze und dabei doch ihr
Herz bewahre. Oder in der Toleranz der Barceloner. Oder in Sonne.
Vielleicht auch in der Mischung aus allem. Ähnlich sieht es Matthew Tree,
Schriftsteller, Journalist, ein Londoner, doch seit 20 Jahren in
Barcelona zu Hause. Lange bevor er Kastilisch lernte, sprach er schon Katalanisch.
Eine magische Stadt
Gibt es eine überzeugendere
Liebeserklärung? Als Tree nach Barcelona zog, glaubten seine Bekannte noch,
das liege in Italien. Während der
ersten zwei Jahre beglückwünschte er sich ständig selbst zu seiner
Entscheidung. "Eine magische Stadt auf populärer Ebene - das ist nicht
von mir,
aber ich finde, es ist die beste Beschreibung." Tree sitzt vor dem "Tres
Tombs" am Markt von Sant Antoni. Das Café ist nie eine Enttäuschung.
Die Kellner sehen aus, als hätte sie das Schicksal arg gebeutelt, sind
zugleich aber von der Aura absoluter Autorität umgeben,
gegründet auf beherrschte Eile, die richtige Dosis Barschheit und ein beeindruckendes
Gedächtnis.
Michael Lange
Bar "Marsella": Hier tranken schon Dalí und Picasso
Seit Barcelona für die Olympischen Spiele 1992 fein gemacht wurde, seit
die Touristenströme anschwellen und sich die Stadt immer erfolgreicher
vermarktet, hört man alte Liebhaber klagen, das "Echte" gehe
verloren. Tree macht sich da keine großen Sorgen. Neues kam dazu, aber
was zählte,
blieb erhalten. Zweiflern empfiehlt er einen Besuch auf den Märkten. Zwei
Eigenschaften kommen dort zusammen: die Lust an der Nahrung und der
Geschmack an einer Unterhaltung. "Cariño, Liebes", ruft die
Verkäuferin hinter ihren Obst- und Gemüsebergen, hinter dem Tableau
glänzender
Fische oder der Geflügelvitrine, "was darf ich dir geben?"
Und nun können lange
Erörterungen beginnen, in denen es um die Ware und ihre Zubereitung geht,
um persönliche Vorlieben des Kunden und die
sämtlicher Familienmitglieder. Nordländern ist das Rätsel und
Faszination zugleich. Dass die Wartenden nicht anfangen zu murren! Dass die
Marktfrau nicht nervös wird bei der wachsenden Traube vor ihrem Stand!
Sie antwortet nicht nur geduldig - sie wird sogar herzlicher mit jedem
Nachfragen. Als verletze es sie, auf Wiegen und Abrechnen reduziert zu werden.
"Ich bin die Herrin über meine Zeit!", scheint sie zu sagen.
Mischung aus Alt und Avantgardistisch
Manche Dinge vertragen keine
Eile. Und dann wieder muss alles schnell gehen. Dann stürmt Barcelona voran
mit riesigen Schritten, beweist,
wie modern und leistungsstark es ist: die nördlichste Stadt des Südens
oder die südlichste des Nordens. Eine Metropole, die Lebenslust und
Effizienz verbindet - das ist ihr liebstes Selbstbild. Mit Olympia hat sie es
erfolgreich in die Welt getragen. Da präsentierte sich ein neues Barcelona.
Wer es zur grauen Zeit Francos kannte, rieb sich nun die Augen. Großen
Anteil an dieser Verwandlung hat Oriol Bohigas. Manche sagen,
den größten. Er ist Architekt und Stadtplaner und war in den achtziger
Jahren Barcelonas Chef-Urbanist. Damals setzte sich die Strategie durch,
die das Barcelona von heute formte: die Mischung aus Alt und Avantgardistisch
in einzigartiger Dichte.
Architekt Bohigas gehört
seiner Herkunft nach zum Bürgertum aus dem Eixample, der Neustadt, die
in einem Netz schachbrettartig angelegter
Straßen den alten Kern umschließt. An den großzügigen
Boulevards bauten die Modernisten, blühen Gaudís fantastische Solitäre.
Heute sind
hier teure Boutiquen genauso zu finden wie gutbürgerliche Cafés,
in denen am Spätnachmittag die "gent de bé", die feine
Gesellschaft,
dick- flüssige Schokolade löffelt. In diesen Kreisen galt Bohigas
neue Adresse Anfang der Neunziger als "nicht gerade zu empfehlen".
Ein Lächeln zuckt im breiten Rechteck seines Gesichts. Damals zog er mit
seinem Studio in die ehemaligen Räume eines Bordells an der
Plaça Reial. Für ihn ist dieser Ort der schönste Barcelonas.
"Dreck und Kostbarkeit zugleich. Ein Sinnbild des Lebens."
Mittelmeermetropole ohne Mittelmeer
Unter den Fenstern des Studios
sitzen zwei Frauen aus dem Norden, lassen sich die Gesichter von der Morgensonne
streicheln, blinzeln
versunken in die Kronen der Palmen. Weiter drüben führt eine Gruppe
Bierbrüder die erste lustlose Debatte des Tages, während zwei breitbeinig
vor ihrem Wagen stehende Polizisten ein Auge auf sie haben. Wohlige Mattigkeit
liegt über dem Platz, als stecke ihm jetzt um zehn noch die
Nacht in den Knochen. Bohigas hat auch seine Wohnung hier, dem Studio gegenüber.
"Als ich sie gekauft habe, war es das billigste Viertel."
Michael Lange
Der Strand ist künstlich, aber das Meer ist echt
Jetzt ist Wohnraum teuer, aber vertrieben worden sei niemand, sagt der Architekt,
"dafür stand viel zu viel leer". Die Gassen ringsum geben ihm
Recht.
Die Geschäfte, die aussehen, als hätte sich im Schaufenster zum letzten
Mal vor 20 Jahren etwas verändert, die vor Fenstern trocknende Unterwäsche.
Hier machten nicht gut gestellte Bürger wie Bohigas den Großteil
der Zuzügler aus, sondern Immigranten aus Afrika und Asien, in ihrem Wunsch
nach einem gesicherten Leben hungrig genug, ihre Läden bis spätabends
offen zu halten. Ob die alten Viertel in Gefahr sind, ihre Identität zu
verlieren?!
Natürlich. Oder anders gesagt: Sie ändern sie."
Die größte Veränderung
für Barcelona aber war die Öffnung zum Meer. Eine "Mittelmeermetropole
ohne Mittelmeer" (Bohigas) war die Stadt vor Olympia,
durch Straßen und Industriegelände vom Wasser abgeschnitten. Jetzt
besitzt sie mehrere Kilometer Strand. Wenn im Sommer die Steine der
Stadt zu Ofenkacheln werden und feuchte, klebrige Luft in den Gassen steht,
dann ist der Strand die Rettung. Ein paar Stunden Ferien,
direkt vor der Haustür. Frühmorgens sieht man junge Leute im Sand
sitzen und aufs Meer hinausschauen. Es ist ihre Art, die Nacht zu beenden.
Durch die Müdigkeit in den Gesichtern strahlt leiser Triumph.
Kulturen begegnen sich als alltägliches Experiment
Nun ist Barcelona noch weiter
ans Meer gerückt. Im Nordosten schiebt sich ein neues, mit Avantgarde-Architektur
bestücktes Gelände ins Wasser,
zum Teil ihm abgerungen, zum Teil über eine alte Kläranlage gebreitet.
"Ein mutiger, progressiver Akt", schwärmt Bohigas. Wieder einmal
will
Barcelona ganz vorne sein, ein Zeichen setzen. Das spektakulärste Gebäude
auf dem für Kongresse und Veranstaltungen angelegten Areal ist das
"Forum" ein blaues Dreieck von Herzog & de Meuron. Gezackte Spiegelflächen
öffnen sich in den Mauern wie Klüfte in den Klippen,
reflektieren den Himmel.
Die Kulturen aber begegnen
sich anderswo, als reales, alltägliches Experiment. Einen schönen
Eindruck erhält, wer von den Ramblas in das
Raval einbiegt. Vorbei an der glatten Granitfassade des Opern-Anbaus, an Telefonläden,
die Gefühlsbindungen auf alle Kontinente halten.
Über die Kreuzung mit dem Straßenstrich. Beim pakistanischen Friseur
prüft ein großer Mann in weißem Gewand mit bedächtiger
Gebärde
seine Rasur. Alte Männer sitzen an langen Tresen aufgereiht in den Bars,
das Blinken der Spielautomaten wirft Muster auf ihre Hemden.
Hauseingänge hauchen feuchte Luft aus. Im Carrer del Carme lässt eine
Frau von ihrem Balkon ein paar Schuhe fallen
("Sie sind schön, doch der linke drückt!"). Die Verkäuferin
aus dem Geschäft darunter fängt sie auf.
Und dann plötzlich
ein leuchtend weißer, klarer Kasten mit gläserner Fassade: das "MACBA",
das Museum für zeitgenössische Kunst.
Hineingebaut in ein Viertel, das einmal das verrufenste der Stadt war. Auf dem
Platz davor fahren Kinder alle Hauttöne auf Rollschuhen
und Skateboards. Später werden pakistanische Mütter kommen und sich
auf die Balustrade setzen. In ihren bunten Saris werden sie
aussehen wie exotische Vögel. Ältere katalanische Ehepaare machen
ihren Abendspaziergang, wobei sie sich an der Hand halten.
Das ist hier so üblich.
"